Samstag, 26. November 2011

Pipo und Hoi
Als ich Anfang Februar 2011 vor die Tür trete, sehe ich einen nackten Spatz auf dem Treppenabsatz liegen; offensichtlich aus einem Nest gefallen, das seine Eltern in der Markisenverkleidung gebaut hatten.

Sein linkes Beinchen ist gebrochen und er piept ganz jämmerlich. Ich nehme ihn mit zu mir ins Apartment, und da ich nicht weiß, was ein junger Spatz so frisst, fange ich ein paar Moskitos, die er auch annimmt. Ich baue ein Nest aus Papiertaschentüchern und bin ganz erstaunt, dass er am nächsten Morgen noch lebt. Da die Moskitos ausgeflogen sind, kaufe ich frisches Gehacktes was Pipo, so nenne ich ihn, gierig verschlingt.

Ich suche das Internet nach Informationen ab, wie so ein junger Spatz aufzuziehen ist und bekomme Kontakt zu einem amerikanischen Vogelfreund, der mich allerdings warnt den Kontakt zu Pipo nicht zu eng werden zu lassen, da er ansonsten niemals mehr in die Freiheit entlassen werden kann. Aber mit seinem gebrochenen Bein sehe ich Pipos Überlebenschancen in Freiheit sowieso als nur gering an und will einfach von Tag zu Tag sehen, wie er sich entwickelt.

Eine Woche später entschließe ich mich aus dem Haus meines Projektpartners auszuziehen, da sich unsere persönliche Beziehung über die Monate ständig verschlechterte und das Projekt nur gerettet werden kann, indem wir uns räumlich voneinander entfernen. Eine Ursache unserer Probleme ist, dass ich völlig mittellos bin und mir, um weiter in Thailand bleiben zu können, mir ständig irgendwoher Geld borgen muss.

Ein Bekannter bietet mir an für eine gewisse Zeit in seinem Haus zu wohnen. Ich gebe ihm dafür einen Teil meiner Möbel. Den Rest stelle ich in seiner Garage unter und bereite mich schon innerlich auf meine Abreise nach Deutschland vor. Mein Tierhilfeprogramm scheint damit auch erledigt zu sein. Und das tut mir mehr weh als mein persönliches Scheitern.

Solange ich aber noch da bin, versuche ich die Tiere so gut als möglich weiter zu versorgen. Pipo wächst heran und scheint trotz seiner Behinderung sein Leben zu genießen. Als er flügge wird, nehme ich ihn in den Garten und lasse ihn aus seinem Käfig. Er hüpft ein wenig herum und macht ungeschickte Flugversuche. Nach einigen Tagen des Trainings fliegt er schon ein paar Meter und ich renne hinter ihm her, damit er nicht auf das Nachbargrundstück fliegt. Aber nach einigen weiteren Tagen kennt er das Terrain und ich kann ihn überall absetzen und mich von ihm entfernen. Wenn ich ihn rufe fliegt er auf mich zu und setzt sich auf meine ausgestreckte Hand.

Ende Februar erreicht mich ein Anruf von Rick, meinem früheren Vermieter. Er fragt mich, ob ich bereit sei einen Job für einen Anwalt zu erledigen. Er habe dafür keine Zeit und die Arbeit sei gut bezahlt. Natürlich kontaktiere ich den Anwalt und erledige den Job wohl zu seiner Zufriedenheit. Ich wittere meine Chance und kann ihn schließlich überzeugen mich fest anzustellen.

Am 8. März trete ich meinen neuen Job an und miete mich in einem kleinen Apartment ein. Pipo nehme ich natürlich mit, obwohl mein neuer Vermieter bei seinem Anblick die Stirn runzelt.

Beim Einzug sehe ich einen Hund vor dem Eingang liegen, von dem ich später erfahre, dass er Hoi heißt. Er ist auch ein Straßenhund, doch mein Vermieter duldet ihn im Haus und versorgt ihn. Schnell schließe ich Freundschaft mit Hoi und bringe ihm ab und zu auch einen Knochen mit, wenn ich von der Arbeit komme.

Bevor die Dunkelheit einsetzt, gehe ich mit Pipo zu einem in der Nähe gelegenen Brachland und lasse ihn frei. Ich setze mit ihm das Flugtraining fort und bald schon fliegt er an die hundert Meter an einem Stück. Wenn ich aber vergleiche, wie elegant die anderen jungen Spatzen fliegen, muss ich anerkennen, dass ich ein schlechter Lehrmeister bin. Zuweilen landet Pipo nicht bei mir und verschwindet irgendwo im Gebüsch.

Mehrfach gebe ich fast auf ihn wieder zu finden und einmal ist es dann so weit. Trotz intensiver Suche kann ich ihn bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht entdecken. Als ich dann am anderen Morgen nach ihm schaue sitzt er doch tatsächlich auf seinem gewohnten Abflugplatz und ich bin erleichtert, ihn nicht verloren zu haben.

Ein anderes Mal, als ich ihn auf einem anderen Grasplatz fliegen lasse, weil der alte Platz gerodet wurde, verschwindet Pipo zwischen angrenzenden Apartmenthäusern, und obwohl ich ihn sehe, kann ich ihn nicht erreichen. Schließlich landet er auf einem Vordach, auf dem sich eine Katze sonnt und ich ahne Schlimmes. Er entkommt aber der Gefahr und mit Hilfe von Anwohnern, die mich allerdings für dingdong (ein Thaiausdruck für jemanden der leicht bekloppt ist) halten, gelingt es mir Pipo wieder einzufangen.

Manchmal denke ich, dass es vielleicht für Pipo besser wäre noch ein paar Tage in Freiheit zu verbringen bevor das Unvermeidliche eintreten würde, als sein ganzes weiteres Dasein überwiegend in einem Käfig zu verbringen. Ich will ihn jedoch nicht seinem Schicksal überlassen.

Eines Tages jedoch nimmt er mir die Entscheidung ab; ich finde ihn morgens tot in seinem Käfig. So leid mir sein Tod tut, so bin ich doch auch ein wenig erleichtert, dass er es hinter sich gebracht hat und ich hoffe, dass er das Gefühl genossen hat, zumindest ein wenig herumfliegen zu können.